Martin Speicher

„Die Anerkennung als Musiker ist in der Nische nicht zu kriegen“

Er sei eigentlich gar kein Jazzmusiker, sagt der Musikwissenschaftler, Saxofonist und Klarinettist Martin Speicher. Seine Musik vermag zu provozieren und zu faszinieren.

„Polytonale“ heißt eine neue Konzertreihe aus dem Bereich Neue Musik, die Du zusammen mit Matthias Schubert gestaltest. Beim zweiten Konzert im September 2019 sahen wir eine ganz außergewöhnliche Besetzung auf der Bühne und hörten frisch komponierte Musik. Welche Idee steckt dahinter?

Die auf den ersten Blick vielleicht merkwürdige Personenkombination von Ulrike Lentz bis Urban Beyer steht für die Idee, Musiker aus ganz verschiedenen Feldern zusammenzubringen, über Grenzbereiche hinauszugehen, nichts zu reproduzieren und herauszufinden, wer wofür ein Faible hat. Das kann Mainstreamiges mit Ecken und Kanten oder eine Zufallsoperation sein. Nichts ist ausgeschlossen.

Bei diesem Konzert spielten elf Musikerinnen und Musiker Kompositionen von Jens Josef, Sven Krug, Detlef Landeck, Matthias Schubert und Dir. Wieviel Komposition und wieviel Improvisation war dabei?

Das ist in dieser Konzertreihe völlig verschieden. Für die „Polytonale 1“ hat Matthias Schubert zu dem Kunstfilm „Der Lauf der Dinge“ eine Partitur für die Laufzeit von exakt 29 Minuten und 45 Sekunden geschrieben. Da war jede Note vorgegeben. Darauf haben sich alle Beteiligten eingelassen. Bei anderen Stücken gibt es mehr Freiheit.

Wer schreibt die Stücke für die nächsten Konzerte?

Das können alle sein, die bisher mitgespielt haben. Es gibt einen Pool von etwa 12 Leuten. Wir wünschen uns, dass es mehr werden.

Bisher lag der Schwerpunkt Deiner musikalisch-künstlerischen Arbeit im Bereich der Neuen Improvisierten Musik. Du hast mit Gastmusikern aus dem In- und Ausland zahlreiche Konzerte gespielt und besondere Konzertreihen organisiert, z.B. während der letzten Documenta. Diese Konzerte finden meist nur ein kleines Publikum, dennoch lässt Du Dich nicht beirren und machst weiter. Woher nimmst Du die Energie?

Ich habe an dieser Sache Feuer gefangen. Das ist meine Art, mich mit Musik zu beschäftigen. Schon als junger Mensch hat es mich gestört, wenn sich Musiker mit dem zufrieden geben, was es schon gibt und überhaupt nicht neugierig sind. Das gilt auch für Konzertbesucher. Gut, manchmal wird man enttäuscht, aber das sollte einen nicht davon abhalten, sich immer wieder etwas Neues anzuhören.

Du hast Musikwissenschaft und Philosophie studiert und spielst seit Deinem 15. Lebensjahr Saxofon. Gab es in dieser Zeit Impulse, die Dich in dieser Haltung bestärkt haben?

Zunächst nicht. Erst als ich von der Uni Saarbrücken nach Gießen wechselte, konnte ich meine Neigungen für zeitgenössischen Jazz und Neue Musik stärker entwickeln. Dort lehrte Ekkehard Jost, damals ein wichtiger Bezugspunkt in Sachen Free Jazz und Neue Musik. Ich war einige Zeit in seinen Ensembles und traf auf etliche Gleichgesinnte. Wir machten uns später gegenüber Jost selbstständig und gründeten 1990 den „Gießen Improvisers Pool“, den es übrigens heute noch gibt. Dabei waren u.a. Georg Wolf, Joe Bonica, Peter Geiselbrecht und Frank Rühl, mit denen ich immer noch Musik mache. So fing es mit der Selbstorganisation an und dabei blieb es.

Mit freien Musikerinitiativen ging es in Kassel weiter. 1995 hast Du mit Hans Tammen die Reihe LOFT MUSIC organisiert und 2008 mit Ulrike Lentz die KOOPERATIVE FÜR NEUE MUSIK Ohrenkratzer e.V. gegründet. Die Begründung für diese selbstbestimmte künstlerische Arbeit hat auch eine politische Komponente. Ihr distanziert Euch ausdrücklich vom bürgerlichen Kulturbetrieb und dessen Konsumenten.

Darin liegt aber nicht die Begründung für unsere Musik! Nicht die Ablehnung von etwas, sondern die Faszination für Musik steht an erster Stelle. Gleichzeitig ist es mir nicht möglich, Vorlieben eines mir im Wesentlichen doch immer unbekannten Publikums zu bedienen. Wir haben es bei Konzerten mit einem strukturellen Hörproblem zu tun. Musik ist ein Angebot an die Zuhörer, sich unmittelbar selbst in Aktion zu bringen. Zuhörer und Musiker gehen eine enge Komplizenschaft ein. Diese scheitert, wenn die Beteiligten eine unterschiedliche Vorstellung z.B. von Melodik haben. Das ist bei Neuer Musik immer der Fall, denn sie geht permanent in eine Richtung, die man nicht erwartet.

Wäre es dann nicht geboten, den Zuhörern gelegentlich Einblicke in diese künstlerische Arbeit zu geben? Als ein Zuhörer nach dem Konzert „100 Jahre Oktoberrevolution: 11 Arten den Regen zu beschreiben“ eine Frage stellte, warst Du wenig mitteilsam.

Ich weiß nicht mehr, was es für eine Frage war. Für dieses Konzert hatte ich mit fünf Saxofonen bzw. Klarinetten Zuspielbänder produziert. Das Verrückte dabei war, dass ich diese z.T. notierte, z.T. improvisierte Musik selber eingespielt hatte und beim Auftritt dazu improvisierte. Ich begegnete mir sozusagen selber. Das ist eigentlich irrsinnig, weil das Band nicht reagieren kann. Das war für mich während des Konzerts schwierig und vielleicht habe ich deswegen so reagiert. Ich war mir selber nicht sicher, ob das eine gelungene Sache war oder nicht.

Wie der Titel schon sagt, stand auch dieses Konzert in einem politischen Kontext. Inwieweit kann man mit musikalischen Mitteln gesellschaftliche Verhältnisse ausdrücken?

Ich kann die innere Struktur einer Komposition als Spiegelbild der ökonomischen Verhältnisse und sozialen Beziehungen der Menschen untereinander anlegen. Das mache ich in dem fünfteiligen Zyklus „Lichtlieder“. In einer Tauschgesellschaft kann ich z.B. das Prinzip des Warentauschs auf einem Markt durch den Tausch von Spielmaterial unter den beteiligten Musikern unmittelbar zum Ausdruck bringen. Das wird für verschiedene gesellschaftliche Formationen mit verschiedenen Besetzungen vom Solo bis zum Orchester durchgespielt. Zum Schluss befinden wir uns in einer utopischen Situation, einer befreiten Gesellschaft, in der es keine Herrschaftsverhältnisse mehr gibt. Das kann man musikalisch umsetzen. Dazu gibt es Texte, Tanz und Lichtprojektionen als zusätzliche Ausdrucksmittel. Das Licht ist dabei das Symbol der zunehmenden Aufklärung.

In einem der Texte, die auf Deiner Internetseite stehen, schreibst Du: „Jede Neuerung braucht ihre Nische, in der eine Entwicklung ungehindert vonstattengehen kann.“ Hast Du in Kassel diese Nische gefunden?

Ja, und diese Nische ist sogar ein bisschen größer geworden, seit neben Ursel Schlicht auch Matthias Schubert und Joshua Weitzel als Veranstalter in Kassel sind. Über diesen Kreis hinaus machen die meisten Jazzmusiker allerdings mit ganz wenigen Ausnahmen einen großen Bogen um mich.

Das heißt nicht, dass die Kollegen Dich als Musiker nicht zu schätzen wissen! Und in der lokalen Presse gab es zuletzt sehr positive Kritiken zu Deinen Auftritten mit dem „Trio Unterholz“ und dem „Fine Sounds Quintet“. Da hat sich doch etwas verändert.

Das ist sehr nett gemeint und die Konzerte waren auch richtig gut. Aber machen wir uns nichts vor: Die Anerkennung als Musiker ist in der Nische nicht zu kriegen und Anbiedern langweilt mich.

Welche Projekte stehen jetzt an?

Quantitativ liegt einiges in der Schublade, wofür mir im Moment die Produktionsmittel fehlen. Das ist z.B. der schon erwähnte Zyklus „Lichtlieder“. Mit der Reihe „Polytonale“ wollen wir in Kassel ein überregionales Ensemble etablieren, einen Pool von professionellen Musikerinnen und Musikern, die mit eigenen Ideen und Kompositionen die unterschiedlichsten Idiome der Musik zur Geltung bringen.

Bist Du zufrieden mit dem, was Du bisher erreicht hast?

Musikalisch ja! Da hat sich enorm viel weiterentwickelt. Die Arbeit mit den Musikerinnen und Musikern und anderen beteiligten Künstlern ist sehr bereichernd. Wir tragen alles selbst, bekommen nur wenig Geld für unsere Auftritte und sind daher vollkommen frei in dem, was wir tun. Schön wäre es, wenn es in der Stadt einen Raum geben würde, in dem unsere kammermusikalischen Konzerte akustisch besser aufgehoben sind. Das ist bisher nur in Eugen Wolfs Atelier wirklich gut, alle anderen Spielorte haben entweder ein Flatterecho oder sie sind zu trocken oder zu hallig. Ich bin aber sehr pessimistisch, was die Zukunft der experimentellen und Neuen Musik betrifft. Das hochsubventionierte Staatstheater spielt inzwischen so gut wie gar keine Neue Musik mehr und auch das Kulturzelt hat längst alle experimentellen Spielformen zugunsten der Popularmusik abgeschafft. Da ist kein Platz mehr für Kreativität und freie Entfaltung. Wir leben in einer Zeit der künstlerischen und kulturellen Zerstörung und das entspricht dem, was gerade politisch abgeht.

Die „Polytonale 3“ findet am 8. Dezember 2019 um 20 Uhr in der Halle des Dock 4 statt:
Polytonale 3 – Creative Music Special

Kurzbiografie

Martin Speicher spielt seit seinem 15. Lebensjahr Saxofon, später auch Klarinette; studierte Musikwissenschaft und Philosophie in Saarbrücken und Gießen, gründet seit 1990 freie Musikerinitiativen mit den Schwerpunkten Neue Musik und Neue Improvisierte Musik, organisiert regelmäßig Konzertreihen unter Einbeziehung anderer Kunstformen, gibt Konzerte mit verschiedenen Ensembles freier Musiker; Komponist, Instrumentallehrer und Moderator der Sendung „FangSCHALLtung“ im Freien Radio Kassel.

Ausführliche Biografie und weitere Informationen unter martinspeicher.net und ohrenkratzer.de

Stand: November 2019; Foto © privat