Wagner-Jahr

Vielleicht habt ihr ja schon genug davon, aber ich komme nicht drum herum: wir haben Wagner-Jahr! Richard Wagner hatte am 22. Mai 200sten Geburtstag. Dieses Datum haben Rundfunk und Publizisten zum Anlass genommen, über die Auseinandersetzung von Jazzmusikern mit seinem Werk zu berichten und zu reflektieren. Seit es Jazz gibt, haben sich improvisierende Musiker mit der klassischen Musik als großem Gegenüber auseinandergesetzt. Um Richard Wagners Musik aber haben sie einen Bogen gemacht. Sein monumentales Werk ist ja heftig umstritten. Wer sich mit ihm befasst, denkt immer auch: Größenwahn, Judenhass und Nationalsozialismus, außerdem gilt seine Musik manchen Jazzern als Inbegriff von Pathos und Schwulst. Inzwischen aber suchen immer mehr Improvisatoren in Wagners Musik nach Potenzial für ihr Jazzspiel und gehen den Fragen nach: Wie viele Blue Notes hat eigentlich der Tristan-Akkord? Welche improvisatorischen Möglichkeiten stecken in der Idee des Leitmotivs? Wie tanzbar sind Opernthemen etc.?

Dabei hat sich der deutsche Jazz mit der Annäherung an Wagner relativ lange Zeit gelassen. In den USA hatten z. B. schon 1964 die Stan Kenton Band einen furiosen Walküren-Ritt und 1997 ausgerechnet der jüdische Pianist Uri Caine eine Wagner-Interpretation eingespielt. Zum Jubiläum nähern sich jetzt die hiesigen Jazzer dem Werk Wagners mit zum Teil erfrischenden Beiträgen: Der Schlagzeuger Eric Schäfer wagt sich dabei am weitesten vor, indem er die Motive Wagners in den Kontext von Dub, Elektronik und Improvisation stellt. Mit kammermusikalischer Feinsinnigkeit ergründet der Bassist Dieter Ilg den „Parsifal“ neu. Und die Saxofonistin Angelika Niescier befasst sich in ihrem „Kundry-Projekt“ mit einer herausragenden Frauenpersönlichkeit in Wagners Werk.

Ich habe dieses Kundry-Projekt noch nicht gehört, ich denke aber, dass es eine äußerst  bemerkenswerte Angelegenheit ist, verkörpert die Figur der Kundry doch das Judentum im Parsifal und Wagners Antisemitismus äußert sich an ihr besonders deutlich. Nun ist der Antisemitismus gerade unter Intellektuellen im 19.Jahrhundert in Mitteleuropa eine weitverbreitete Angelegenheit. Sogar Karl Marx, selbst Jude, hat sich antisemitisch geäußert. Wagners Weltanschauung geht hier allerdings viel weiter. Aus diesem Grund geht m. E. die aktuelle Diskussion, die Wagners Antisemitismus zwar thematisiert, aber doch von seinem Werk trennen möchte, an der Sache vorbei. Dabei beziehe ich mich nicht nur auf seine Rezeption oder Vereinnahmung (Missbrauch?) durch die Nationalsozialisten, sondern vor allem auch auf seine eigenen Äußerungen. So schreibt er in einem Brief an Ludwig II.: „Ich halte (…) die jüdische Rasse für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr und glaube, daß namentlich die Deutschen an ihr zugrunde gehen werden. Vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als künstlerischer Mensch aufrechtzuerhalten wußte.“ Und Wagner war fähig, seine Kunst zur Manipulation für seine u.a. auch antiintellektuelle Weltanschauung  einzusetzen. 1859 schreibt er an Mathilde Wesendonk: „Nun denken Sie, meine Musik, die mit ihren feinen, feinen, geheimnisvoll-flüssigen Säften durch die subtilsten Poren der Empfindung eindringt, um dort alles zu überwältigen, was irgendwie Klugheit und selbstbesorgte Erhaltungskraft sich ausnimmt, alles hinwegschwemmt, was zum Wahn der Persönlichkeit gehört und nur den wunderbar erhabenen Seufzer des Ohnmachtsbekenntnisses übrigläßt.“ Dazu schreibt der Germanist Hartmut Zelinsky: „Er (Wagner) hat die Musik ganz bewußt als eine Art Droge, als Rauschmittel und als Weltanschauungsträger verstanden und eingesetzt. Diese Fähigkeit und dieses Bewußtsein hat es bis dahin in der Musik- und Kulturgeschichte nicht gegeben…“.

Was bisher öffentlich kaum aufgefallen ist, auch Giuseppe Verdi ist 1813 geboren (ich gestehe hier, dass er mir wesentlich näher ist als Wagner), wir haben also auch ein Verdi-Jahr. Rigoletto, Nabucco, Aida als Reservoir für Jazzmusiker? Bekannt ist mir bisher nur ein „Othello-Projekt“ von 2010 des oben bereits erwähnten umtriebigen Jazzbassisten Dieter Ilg.