Jatzek hat den Blues

Jatzek ist ja nun schon lange in Deutschland und nicht nur am hiesigen Jazzleben sehr interessiert, sondern auch an der deutschen Politik. Zur Zeit verbindet er beides miteinander; er hat den Berlin Blues. “Du interessierst Dich doch auch für Fußball“, legt er bei seinem letzten Besuch gleich los, „ich stell Dir hier mal eine Quizzfrage: Eine eigentlich gute Fußballmannschaft, deren Gegner Eigentore ohne Ende schießen, Platzverweise kassieren, überhaupt miserabel spielen, geht regelmäßig als Verlierer vom Platz. Wie heißt diese Mannschaft?“ Den HSV kann er nicht meinen, der spielt ja selber schlecht und auch der KSV Hessen nicht, der hat ja meistens gute Gegner. Da platzt er auch schon mit der Antwort raus: SPD!
Sorry, das musste jetzt sein, obwohl es natürlich nichts mit Jazz zu tun hat. Aber eben mit Blues und selbstverständlich auch mit Demokratie. Und Jazz hat mit beidem zu tun.

Was ihn denn so am Jazz reizen würde, wurde Wynton Marsalis gefragt, der ja neben Jazz in vielen Musikrichtungen, auch in der Klassik, zuhause ist. Er antwortete: „Jazz bedeutet die Kreation von Blues-basierten Melodien durch eine harmonische Form, über die improvisiert wird, bedeutet Swing und Gruppendialog, bedeutet, etwas Gewöhnliches hip werden zu lassen. Wenn ich von Jazz rede, meine ich die Musik der Demokratie, von Menschen, die zusammenkommen und gemeinsam etwas schaffen.“ ‚It‘s all Blues‘, sagte Miles Davis.

So ist der Jatzek halt. Er hat den Blues und setzt die blaue Brille auf. „Du solltest mal etwas über die vielen Bedeutungen, Implikationen und Konnotationen von ‚blues‘ schreiben, vor allem die Bedeutung des Blues für den Jazz“. – „Habe ich das nicht schon?“ – „Kann mich nicht erinnern.“
Er hat schon mein (von mir immer mal wieder zitiertes) Jazzlexikon (Kunzler) in der Hand, liest laut: „Blues ist gewissermaßen der Tonfall des Jazz (Hervorh. A.S.) und Blues Feeling der gemeinsame Nenner seiner Musiker (…), gleichgültig, ob nun über eine Bluesform improvisiert wird, über eine AABA-Ballade oder über die 37taktike, harmonisch ungebundene Konstruktion eines Avantgardisten.“

Wohingegen, muss ich einwenden, der Blues als eigenständige populäre Musikform in der afroamerikanischen Community längst von anderen Stilen wie Soul, R&B, Hip-Hop etc. abgelöst worden ist. Aber auch in diesen Stilen lebt er, wie auch in der Arbeit weißer Künstler, natürlich weiter. Ich habe früher sogar noch Blues getanzt. Die Musik dazu waren allerdings Balladen, die in der Regel nicht viel mit der Musikform Blues zu tun hatten.
Was“, so Jatzek emphatisch, „wäre die weltweite populäre Musik ohne den Blues!“ „Und der Blues und die ganze englischsprachige Popularmusik ohne das Wort ‚baby‘“, füge ich trocken hinzu. Womit wir bei den Texten wären.

In den Bluestexten erzählt der Autor oder Sänger von tatsächlichen oder fiktiven eigenen Erlebnissen, heißt es sinngemäß bei Wikipedia. Es geht um Diskriminierung, Verrat, Verbrechen, Resignation, unerwiderte Liebe, Arbeitslosigkeit, Hunger, finanzielle Not, Heimweh, Einsamkeit und Untreue, in sozialkritischen Stücken auch um Religion, Politik (es gibt z.B. tatsächlich einen Hitler Blues), Frauenrechte, tyrannische Vorgesetzte, Sex und herben Sexismus, vom vulgären Hokum Blues gar nicht zu reden. „Siehst du“, sagt Jatzek „es ist doch gar nicht so abwegig, vom Berlin Blues zu sprechen.“
Vielleicht interessant am Rande: Die Texte bestehen sehr oft aus fünfhebigen Zeilen (also mit fünf betonten Silben). Leonard Bernstein hat sie einmal mit Shakespearschen Versen verglichen und gleich einen Blues aus Shakespeare Zitaten präsentiert.
Über die typische Versstruktur brauchst du, glaube ich, nichts zu schreiben“, sagt Jatzek „das wissen alle.“ „Du meinst die dreizeilige Strophe, bei der die zweite Zeile eine Wiederholung oder Bekräftigung der ersten ist?“ – „Ja, und die dritte so eine Art Antwort.“ – „Das hat auch oft seine Entsprechung in der Bluesmelodie. Nimm etwa ‚Tenor Madness‘ von Sonny Rollins.: eine viertaktige Phrase wird präsentiert, leicht variiert wiederholt und dann kommt was neues…“

Jatzek hört schon nicht mehr richtig zu. Er hat in dem Wikipedia Artikel über den Blues weiter gelesen und runzelt die Stirn. „Da steht: ‚Im Jazz ist der Blues eigentlich nur noch als Harmoniefolge bekannt (wie die Rhythm Changes von G. Gershwin)‘, das ist ja nun völlig daneben!“ entrüstet er sich. Genau! Da lesen wir doch besser nochmal die obigen Zitate von Marsalis und Kunzler.

(Albrecht Schmücker in der Jazzpost Oktober 2018)