Jatzek und die Jazzstandards

Jatzek interessiert sich neuerdings für Fußball. Ein bisschen gekickt hat er ja immer schon – bei den Thekenmannschaften in Heidelberg war er berühmt berüchtigt für seinen Übersteiger-Hackentrick, mit dem er zuweilen den Gegner, aber mehr noch die eigenen Mitspieler verwirrte. Jetzt aber ist er tief in die Theorie eingestiegen. „Warum – fragt er mich – heißen Ab-, Eck-, Frei-, Strafstöße und auch Einwürfe eigentlich Standardsituation oder auch einfach Standards?“
Ich muss ja gestehen, dass ich die Bezeichnung immer für ein sprachliches Missverständnis oder für eine Verballhornung gehalten habe. Ich meine mich auch zu erinnern, dass früher mal von Standsituationen die Rede war, was einleuchten würde, führt man sie doch bei unterbrochenem Spiel mit einem ruhendem Ball aus. In England nennt man diese Szenen ja auch dead-ball situations.
„Wie heißt es denn auf tschechisch?“ frage ich zurück. „Standardní situace, wenn ich mich richtig erinnere, aber das ist wie ja auch im Deutschen eine Bezeichnung für alle möglichen häufig auftretenden Situationen.“ „Auch in der Musik?“, frage ich, denn ich habe das Gefühl, dass es Jatzek noch um etwas anderes geht. „Lass uns doch erst mal im Netz schauen“, weicht er aus. Was sagt z. B. Wikipedia:

Als Standardsituation (auch kurz Standard genannt) wird eine Spielsituation in einem Mannschaftssport bezeichnet, die sich aufgrund einer vorherigen Spielunterbrechung ergibt.
Die Standardsituation eignet sich wegen des relativ gut vorhersehbaren Ablaufs besonders dazu, im Training geübt zu werden. (…) Der Begriff tauchte im Fußball erstmals in den 1970ern in der DDR auf. Im westdeutschen Fußball wurde der Begriff gegen Ende der 1980er Jahre übernommen.“

Erst seit Ende der 80er spricht man bei uns von Standards im Fußball?, wundern wir uns. Aber Jatzek zeigt mir dann noch anderswo im Netz den Hinweis, dass insbesondere spielschwache Mannschaften Standards trainieren (sollten), da über 30 Prozent der Tore aus solchen Situationen resultieren.

Aha, jetzt dämmert‘s mir endgültig. Ich weiß ja, dass Jatzek ein durchaus kritisches Verhältnis zum Jazz-Mainstream hat. „Willst du mir etwa sagen, dass spielschwache Bands…“. Er unterbricht mich. „Schauen wir uns doch einmal an, was uns die Fachliteratur zu den Jazzstandards zu sagen hat!“ Okay, ich krame mein altes Jazzlexikon vor und wir lesen:

Standard ist die Bezeichnung für ein harmonisch und melodisch besonders ergiebiges und deshalb über einzelne Stilepochen hinweg häufig als Improvisationsgrundlage (…) benutztes Thema. Dabei kann es sich um Evergreens aus der populären Musik oder um reine Jazzkompositionen wie etwa Thelonious Monks ‚Round About Midnight‘ handeln.“ (Martin Kunzler, Jazz Lexikon)

Soll man sagen, dass Jazzstandards Vehikel sind, auf die man sich als Ausgangsmaterial für Improvisationen immer zurückziehen kann, auch ohne besonders kreativ zu sein? Jazzstandards als Innovationsbremsen? Ich kenne tatsächlich Jazzmusiker, die aus diesem Grund abgelehnt haben, noch Standards zu spielen; mit dem Resultat, dass es sehr schwierig wurde, ihnen zu folgen. Bezeichnend, dass sie mittlerweile wieder Standards spielen. Nein, Jatzek gehört nicht dazu. Und zum versöhnlichen Schluss finden wir dann auch noch folgende Passage bei Wikipedia:

Seit den 1950er-Jahren haben sich die Standardformen vor allem durch die Aufnahme von lateinamerikanischen und afrikanischen Rhythmen und Themen wie auch durch die Erweiterung der Harmonik und Melodik stark vermehrt. In den 1960er- und frühen 1970er-Jahren führte die Experimentierfreude der Jazzmusiker im Free Jazz zur Ersetzung oder Auflösung aller formalen Konventionen, die durch Standards vorgegeben waren. Seit den 1970er-Jahren war eine teilweise Rückwendung zu traditionellem Improvisieren über Standardthemen und -formen zu beobachten. Dabei wurde jedoch die inzwischen gewonnene Erfahrung mit dem freien Spiel von vielen Combos integriert. Standardformen sind heute ebenso variabel und vielfältig wie die Jazzmusik insgesamt.“

(Albrecht Schmücker in der Jazzpost Februar 2018)