Timing

Fast wäre diese Jazzpost nur ein Konzertankündigungsblatt geworden. Der Postillion wusste einfach nicht, wo er die Zeit zum Schreiben hernehmen sollte. Erst war er fast zwei Wochen nicht im Lande, dann stellte sich das für das Verfassen eingeplante Wochenende als total mit allen möglichen Terminen und Arbeiten zugepflastert heraus und schließlich kündigte sich auch noch eine Erkältung an. Er hat schon daran gedacht, Jatzek übernehmen zu lassen. Motto: Ich hab so viel über Dich geschrieben, jetzt schreib doch Du mal was über mich. Jatzek war natürlich nicht aufzufinden. Wenn man ihn mal braucht… Auf jeden Fall: Alles ganz schlechtes Timing! Und das mir. Da fiel mir doch gleich der Witz ein:

Was bist du von Beruf? – Jazzmusiker.
Was ist dein größtes Problem – Timing!

Dabei ist nicht ganz klar, ob es wirklich Timing ist, was den guten Jazzmusiker auszeichnet. Folgt man Martin Kunzler – ich habe ihn immer mal wieder zitiert –, so ist es eigentlich die Time, die „im Jazz begrifflich für Rhythmusgespür, sowohl in Hinblick auf die spannungsgeladene Phrasierung wie auch auf das sichere Halten und Verklanglichen des Beat“ steht. Timing bezieht sich dagegen eher auf das organisatorische Drumherum. Nochmal Kunzler: „Wenn ein Musiker jemandem ein gutes Timing bescheinigt, kann er im Grunde nur seinen Manager meinen, der die Termine richtig koordiniert. Dagegen gilt ‚Time‘ im Jazz als Basistalent; wird es einem Instrumentalisten abgesprochen, hält man ihn gewissermaßen für unfähig.“

Also, das Timing war schlecht, was aber nicht unbedingt etwas über meine Time aussagt. Oder? Timing oder Time sind ja ohnehin inhaltlich weit ausgereizte Begriffe. Wenn etwa der Fußball-reporter von einer genau getimten Flanke spricht, meint er meistens eine genau bemessene Flanke, die seinen Anspielpartner findet. Der Zeitfaktor ist dabei nur ein Aspekt von vielen: Der Abspieler muss die Zeit, die Ball und Partner brauchen, um sich zu treffen, sozusagen im Fuß haben, aber eben auch den Laufweg, die Platz- und Windverhältnisse, das mögliche Verhalten der Gegenspieler etc. mit berücksichtigen.

Worum es im Jazz geht, hat einmal der Publizist Joost van Praag in eine nachdenkenswerte Metapher gekleidet. Ein Gentleman betritt gemessenen Schrittes „den Bahnhof, geht ohne Eile auf den Zug zu und besteigt, am richtigen Wagen angekommen, diesen in völliger Ruhe. In dem Augenblick, da sich der Zug in Bewegung setzt, schließt er die Tür. Jeder andere wäre ein, zwei Augenblicke vor der Abfahrt an seinem Platz gewesen. Aber unser Gentleman pflegt den Zug in der letztmöglichen Sekunde zu besteigen, ohne sich im Geringsten zu beeilen – kurzum, mit der größten Leichtigkeit“. Nicht Time oder Timing, hier verschmilzt beides. Der Gentleman könnte Ben Webster heißen oder Bobby Timmons.