Wie es ist, als Musiker an einer Jamsession teilzunehmen

An meiner ersten „richtigen“ Jamsession nahm ich vor ca. sechs Jahren teil, als der Leiter der Bigband der Universität Kassel, Detlef Landeck, anregte, dass die Rhythmusgruppe, in der ich Gitarre spielte, die Session im Schlachthof eröffnen sollte. Wenn man wirklich gar keine Sessionerfahrung hat, ist vermutlich der erste Impuls, sich im Internet zu informieren. Dies tat ich und stieß dann auf allerhand Informationen: Den Kanon aus Stücken, die man angeblich unbedingt können muss, „Session-Etikette“, also wie man sich am besten verhalten sollte, um nicht negativ aufzufallen, und natürlich einem Füllhorn aus spannenden, aber auch teilweise verunsichernden Anekdoten. Die eigentliche Session-Erfahrung bekommt man so natürlich nicht vermittelt. Und wahrscheinlich kann einen nichts auf eine Session vorbereiten – außer einer Session selbst.

Nachdem wir den Opener zu Ende gespielt hatten, begann die eigentliche Session. Zunächst war die Beteiligung anderer Musiker eher mager, weshalb die meisten aus der Rhythmusgruppe weiterhin als Sessionband auf der Bühne spielten. Als wir jedoch als zweites oder drittes Stück das Thema von „Footprints“ ansetzten, erhoben sich Scharen aus Saxophonisten aus dem Publikum. Die Flut ebbte ab, als der sechste oder siebte Saxophonist sein Solo beendete und wir nach mindestens zwanzig Minuten das abschließende Thema ansetzten. Eine ähnliche Situation ist mir in den sechs Jahren Session danach nicht wieder passiert. Mit Unerwartetem muss man rechnen und Überraschungen, wie der Auftritt der fantastischen Sängerin bei der November-Session, die sogar über einen Blues jodelte, gehören ebenso dazu wie die „üblichen Verdächtigen“.

Wenn ich selbst als Musiker auf eine Session gehe, versuche ich immer wieder den Abend über die Situation einzuschätzen: Welche Musiker sind überhaupt noch da? Kann ich der gerade spielenden Besetzung etwas beisteuern? Oder möchte ich vielleicht einfach nur zuhören und genießen, was gerade passiert? Sowieso gibt es auf einer Session viel zu erleben, auch ohne dass man auf der Bühne ist. Zum Beispiel ist es immer spannend zu beobachten, wer auf der Bühne mit wem „kommuniziert“, wer eine richtungsgebende Rolle einnimmt und ob dessen Impulse angenommen werden. Jenseits vom Bühnengeschehen unterhält man sich mit den anderen Musikern, denn die Session ist eine wichtige Gelegenheit zum Vernetzen. Möglicherweise ergibt sich ja sogar ein Gig oder ein neues Projekt! In jedem Fall hört man ausgeschmückte Geschichten und bekommt wertvolle Anregungen.

Aber wann nehme ich persönlich meine Gitarre in die Hand und gehe auf die Bühne? Zwar nimmt der Aspekt des „Sich nicht Trauens“ immer weniger Raum ein, je öfter man Sessions besucht, aber ganz verschwindet er wahrscheinlich nie. Einmal wurde eine Session von Ursel Schlicht, Lou Grassi, Ken Filiano und Sängerin Andrea Wolper eröffnet. Diese Band spielte dermaßen souverän, frisch und spannend, dass ich gar nicht aus dem Staunen herauskam. Dementsprechend traute ich mich nicht auf die Bühne. In der Pause vor dem letzten Set kam ich ins Gespräch mit Lou, der mir daraufhin entgegnete: „Playing is always better than not playing.“ Und das tat ich und er hatte recht.

(Vincent Wolf in der Jazzpost Februar 2020)